
Was Dorfleben mit Führung zu tun hat
Ich bin 1973 eingeschult worden – in Nordhastedt/Dithmarschen, auf der Maria-Jessen-Schule. Damals war das einfach der Name meiner Grundschule. Wer Maria Jessen war, wussten wir durch das Fruunsbeerfest – und mehr hat uns erstmal auch nicht interessiert.
Später wechselte ich auf die Wulf-Isebrand-Schule in Albersdorf. Auch da war der Name einfach da. Auf den waren wir alle stolz, weil er am 17. Februar 1500 die Dithmarscher Bauern erfolgreich gegen die Dänen geführt hat. Zwei Schulen, zwei Namen, zwei Geschichten – und lange Zeit habe ich mir nichts dabei gedacht. Außer dass ich beide gut fand.
Zwei Namen, zwei Geschichten, eine Wirkung
Erst mit den Jahren ist mir aufgefallen, was für eine Besonderheit das eigentlich ist: dass in Dithmarschen nicht nur ein Bauernführer wie Wulf Isebrand erinnert wird, sondern auch eine Frau wie Maria Jessen – mit eigenem Straßennamen, Schulnamen, einem Platz im Wappen und heute sogar als Stahlskulptur im öffentlichen Raum.
Diese Frau, so heißt es in der Überlieferung, hat mit den anderen Frauen das Dorf vor Räubern geschützt. Nicht mit Waffen, sondern mit dem, was da war. Sie haben sich zusammengeschlossen, organisiert und mit heißem Brei und klarem Kopf die Situation in die Hand genommen. Das wird bis heute gefeiert – beim Fruunsbeer, einem Dorffest, bei dem die Frauen alle drei Jahre das Sagen haben und gefeiert werden, eben mit „Frauenbier“.
Als Kind habe ich all das als selbstverständlich erlebt. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, wie selten es ist, dass eine Frau in dieser Form Teil einer kollektiven Erinnerung wird. Sie war einfach da, gehörte dazu – so wie der Schulhof, das Ortsschild oder das Schild an der Wand.
Heute sehe ich das anders.
Was mir selbstverständlich erschien, war irgendwie tief prägend
Ich bin auf einem Bauernhof groß geworden, mit vier Generationen unter einem Dach. Verantwortung war nichts, worüber man sprach – man hat sie übernommen. Schon als Kind, weil das Ganze nur funktionierte, wenn alle ihren Teil beitrugen. Meine Mutter konnte gefühlt alles und war die stärkste Frau der Welt. (Das hatte auch seine Schattenseiten.) Nicht, weil sie sich beweisen musste, sondern weil es nötig war. Weil jemand es tun musste – und sie es konnte.
Früh haben meine Geschwister und ich gelernt, dass Verantwortung zu tragen eine Selbstverständlichkeit ist. Und vielleicht ist das genau der Punkt, an dem sich diese frühen Erfahrungen mit der Figur Maria Jessen verbinden: Sie steht da, aufrecht, nicht zierlich, mit einer Hellebarde in der Hand. Nicht, weil sie kämpfen will – sondern weil sie bereit ist, das zu schützen, was ihr anvertraut ist. Nicht aus Macht – sondern aus Verantwortung. Nicht aus Trotz – sondern aus Haltung.

Innere Haltung statt Inszenierung
Dass mich das tief geprägt hat, wird mir peu à peu immer deutlicher. Ich habe nie daran gezweifelt, dass Frauen führen sollten. Ich fand es komisch, dass nicht mehr Frauen in Führung sind. Ich fand es immer komisch, dass Frauen sich mehr beweisen müssen, um Verantwortung zu bekommen. Ich fand es eigenartig, dass Macht und Fürsorge scheinbar Gegensätze sind.
Ich dachte eigentlich, dass das normal wäre – so wie bei meiner Mutter oder wie bei Maria Jessen. Und ich dachte aber eben auch immer, dass da etwas nicht stimmt. Wir feiern Maria Jessen und die Frauen im Dorf – aber wir wählen sie nicht zu Bürgermeisterinnen. Aber allzu lange habe ich darüber gar nicht nachgedacht.
Zwei Wappen, die nicht passen
Vor ein paar Jahren haben mein Mann und ich überlegt, ob wir auf unserer Hochzeitseinladung die Wappen unserer Herkunftsdörfer abbilden – seines aus Viborg, mit Mönchen, und meines aus Nordhastedt, mit Maria Jessen und ihrer Hellebarde.


Wir haben es ausprobiert. Aber egal, wie wir es drehten: Es sah immer so aus, als würde Maria Jessen die Mönche bedrohen – oder sich von ihnen abwenden. Deshalb haben wir von dem Vorhaben abgesehen.
Aber da war sie wieder, die Maria Jessen, und ich musste doch etwas schmunzeln, weil mir auf einmal klar wurde, wie stolz ich auf das Wappen bin – aber dass es eben auch nicht nur gut ist. Wir haben es also gelassen, und wir schmunzeln heute noch oft darüber. Und wenn wir uns streiten, kommt das durchaus mal hoch. Denn sie zeigt, wie präsent diese Figur bis heute in mir ist. Nicht als Symbol, sondern als Haltung. Nicht als Geschichte, sondern als Teil von mir.
Und Per sagt dann manchmal: „Leg die Hellebarde mal in die Ecke. Du bist nicht Maria Jessen!“
Führung bedeutet, Mut zu haben, sich zu stellen und für andere einzustehen
Was mir das Ganze mittlerweile bedeutet, ist viel mehr als zu wissen, dass es die „Maria-Jessen-Straße“ gibt. Sie prägt das Wappen, die Schule ist nach ihr benannt. Es gibt eine Kultur im Dorf, die das Weibliche zeigt, ein Dorf ihre Geschichte seit Jahrhunderten lebendig hält – durch ein Fest, das alle drei Jahre begangen wird. Es ist eine innere Sicherheit, dass das auch richtig so ist.
Ich merke, dass es mir manchmal hilft, daran zu denken. Denn als Frau und als Unternehmerin brauche und brauchte ich ab und an mal genauso viel Mut, wie Maria Jessen, als sie gegen die Räuber losgezogen ist.